1. Definition Grenzabstand
Der Grenzabstand ist die Entfernung zwischen der projizierten Fassadenlinie und der Parzellengrenze (vgl. Ziff. 7.1 Anhang 1 BauV).
2. Sinn und Zweck von Grenzabständen
Abstände dienen der gegenseitigen Anordnung von Bauten und Anlagen, der Wohn- und Arbeitshygiene sowie dem Schutz natürlicher Elemente und Gegebenheiten (Ufer, Waldränder etc.; vgl. Erl. zum Bau- und Nutzungsrecht des Kantons Aargau, N 247 zu § 26 BauV). Durch den grossen Grenzabstand soll neben den Belichtungsverhältnissen der Immissionsschutz verbessert werden. Sinn und Zweck der Bestimmung ist somit auch der Selbstschutz des Bauherrn (vgl. AGVE 2002, S. 236).
3. Messweise
Die Bauverordnung legt in Übereinstimmung mit der IVHB in § 26 BauV nur die Messweise und nicht das Mass des grossen Grenzabstands fest. Der grosse Grenzabstand ist senkrecht vor der Hauptwohnseite einzuhalten. Gemäss § 47 BauG schreiben die Gemeinden die einzuhaltenden Grenzabstände vor. Diese Bestimmung ist zugleich Auftrag wie Verpflichtung an die Gemeinden, in ihren Nutzungsvorschriften die einzuhaltenden (Grenz-)Abstände zu regeln (vgl. Christian Häuptli, in: Kommentar zum Baugesetz des Kantons Aargau, Bern 2013, N 4 zu § 47 BauG). Gemessen wird die Distanz zwischen der projizierten Fassadenlinie (Fassadenlinie auf der Ebene der amtlichen Vermessung) und der Parzellengrenze. Entsprochen wird dem Grenzabstand, wenn das festgelegte Mindestmass an jedem Punkt eingehalten ist. Vorspringende Gebäudeteile im Sinne von § 21 BauV und Ziff./Fig. 3.4 der Anhänge 1 und 2 der BauV ragen über die Fassadenlinie hinaus, weshalb für diese der Grenzabstand nicht gilt. In den Gebäudeecken ist immer der kleine Grenzabstand zur Parzellengrenze massgebend (vgl. IVHB-Erläuterungen, S. 15). Die Messweise sowie die Unterscheidung zwischen dem kleinen und dem grossen Grenzabstand lassen sich der untenstehenden Abbildung 1 entnehmen:
Abbildung 1: Figur 7.1 - 7.3 Abstände und Abstandsbereiche (Anhang 2 BauV)
4. Kriterien für die Bestimmung der Hauptwohnseite
Legt die Gemeinde einen grossen Grenzabstand fest, so ist dieser senkrecht vor der massgeblichen Fassade von bewohnten Bauten (Hauptwohnseite) einzuhalten (vgl. AGVE 2001, S. 575).
Die für den grossen Grenzabstand massgebliche Fassade wird nach den örtlichen Verhältnissen (Lärm, Besonnung, Nutzung der Räume, Einpassung usw.) bestimmt (vgl. § 17 Abs. 2 ABauV). Beim Begriff der Hauptwohnseite handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Der Wortlaut macht deutlich, dass die Bestimmung nur für Bauten gilt, die der Wohnnutzung dienen. Unter Wohnnutzung versteht man gemeinhin eine Reihe verschiedener Zwecke und Tätigkeiten, zu denen namentlich die Erholung, das Schlafen, die Haus- und Heimarbeit, das Essen usw. gehören. Die Wohnnutzung ist dabei stets auf eine gewisse Dauer ausgerichtet und die entsprechenden Räumlichkeiten sind dazu bestimmt, ihren Benutzern längere Zeit zur Verfügung zu stehen. Dies ergibt sich einerseits aus Art. 2 Abs. 1 WEG, welcher Wohnungen als Räume, die für die dauernde Unterkunft von Personen geeignet und bestimmt sind, definiert. Andererseits enthält auch der Wohnsitzbegriff im Zivilgesetzbuch (vgl. Art. 23 Abs. 1 ZGB) das Element der Dauer. Demgemäss zählt der bloss vorübergehende Aufenthalt von Personen in einem Hotel, hotelähnlichen Betrieb, Heim usw. nicht zur Wohnnutzung im eigentlichen Sinne (vgl. AGVE 1994, S. 370 f. mit Hinweisen). Der Zweck des Selbstschutzes des Bauherrn gewinnt nur dann eine tiefere Bedeutung, wenn der Aufenthalt in den betreffenden Räumen eine gewisse Intensität aufweist. Bei einem Schulhaus trifft dies beispielsweise nicht zu (vgl. AGVE 2002, S. 236).
Der örtlichen Baubehörde verbleibt im Einzelfall ein erheblicher Ermessens- und Beurteilungsspielraum bei der Bestimmung der Hauptwohnseite. Die Bauverordnung benennt in § 26 BauV die Grösse und Bedeutung der Fenster und der Flächen der betreffenden Räume als massgebend für die Beurteilung. Damit wurden die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zu § 17 Abs. 2 ABauV ausdrücklich gesetzlich normiert. Da der grosse Grenzabstand primär dem Selbstschutz des Bauherrn dient, steht dem Bauherrn ein gewisser Spielraum bei der Bestimmung der Hauptwohnseite zu (Regierungsratsbeschluss Nr. 2022-001535 vom 30. November 2022, E. 4). Fenster auf der Südwestseite sind im Hinblick auf die direkte Sonneneinstrahlung grundsätzlich bedeutsamer als solche auf der Nordwestseite. Kinderzimmer zählen wie Wohn-/Esszimmer zu den für die Bestimmung der Hauptwohnseite massgebenden Räumen (vgl. AGVE 2001, S. 576). Dies gilt auch für andere Räume der Wohnnutzung, wie Schlafzimmer (vgl. AGVE 2005, S. 176), etwas weniger allerdings Korridore und Sanitärzellen, wo sich die Bewohner in der Regel nur sehr kurze Zeit oder auch allenfalls gegen aussen blickdicht abgeschirmt aufhalten (Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. August 2018, E. II/3.4.3.2 f.). Zusätzlich – neben den Fenster- und Raumflächen – sind auch Türen nach aussen und die Sitzplatz- und Balkonanordnung zu berücksichtigen (vgl. AGVE 196, S. 522; Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 26. Februar 2016, WBE.2015.376, E. II/4.4.3).
Gemäss verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung sind bei Mehrfamilienhäusern mehrere Hauptwohnseiten an unterschiedlichen Fassaden (je Gebäudeteil oder Wohneinheit) möglich (vgl. AGVE 1996, S. 521; Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 31. Januar 2024, WBE.2023.109, E. 2.2.1.). In der Praxis spielt diese Frage häufig bei Annexbauten eine Rolle.
5. Mehrlängenzuschlag
Der Mehrlängenzuschlag ist in der Bauverordnung nicht geregelt. Die Gemeinden können aber für Gebäude, deren Länge ein bestimmtes Mass überschreitet, einen vergrösserten Grenzabstand vorschreiben. Wo ein Mehrlängenzuschlag vorgeschrieben ist, wird dieser zum massgebenden Grenzabstand hinzugerechnet (vgl. IVHB-Erläuterungen, S. 15).
Abbildung zu Mehrlängenzuschlag
6. Besondere Abstandsvorschriften
Besondere Grenzabstände gelten für Klein- und Anbauten, für Einfriedungen, Stützmauern und Böschungen, für Unterniveaubauten und unterirdische Bauten (vgl. §§ 19/29 BauV sowie Kommentare chkp. zu §§ 19/20 BauV). Besondere Abstandsvorschriften sind sodann für Baulinien, Strassen (vgl. § 111 BauG), Wald (vgl. § 48 BauG) und Gewässer (vgl. Übergangsbestimmungen GSchV) vorgesehen. Weitere Abstände können sich überdies aus der Umweltschutzgesetzgebung ergeben.
Baulinien sowie Strassen-, Gewässer- und Waldabstände gehen als Detailvorschriften (lex specialis) den Grenzabstandsvorschriften in der Regel vor (vgl. dazu AGVE 1992, S. 362 f.). Dies gilt selbst dann, wenn die besonderen Abstände die ordentlichen Grenzabstände unterschreiten. Das heisst, wenn in einer Gemeinde beispielsweise ein grosser Grenzabstand von 8 m vorgesehen ist und die Hauptwohnseite sich zur Strasse richtet, geht der kleinere Strassenabstand vor.