1. Begriffe
Als öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen gelten befristet errichtete oder auf Dauer angelegte Räumlichkeiten und Einrichtungen, welche a) einem beliebigen Personenkreis offen stehen, oder b) nur einem bestimmten Personenkreis offen stehen, welcher jedoch in einem besonderen Rechtsverhältnis zu Gemeinwesen oder zu Dienstleistungsanbietenden steht, welche in der Baute oder Anlage tätig sind, oder c) in denen Dienstleistungsanbietende persönliche Dienstleistungen erbringen (vgl. Art. 2 lit. c i.V.m. Art. 2 lit. b BehiV).
Nicht als öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen gelten solche, welche zur Kampf- und Führungsinfrastruktur der Armee gehören (vgl. Art. 2 lit. b Ziff. 2 BehiV).
Als Bauten, die nur einem bestimmten Personenkreis offenstehen, welcher in einem besonderen Rechtsverhältnis zu Gemeinwesen oder zu Dienstleistungsanbietenden steht, die in der Baute oder Anlage tätig sind, gelten zum Beispiel Schulen, Kirchen und Clubanlagen (vgl. Ziff. 1.3.2.2 der Norm SIA 500). Auch ein als religiöses Zentrum genutztes Vereinslokal, in welchem vielfältige Dienstleistungen wie Mittags- und Abendgebet, Nachhilfestunden und Integrationskurse angeboten werden, gilt als öffentlich zugängliche Baute. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Angebote nur für Vereinsmitglieder erbracht werden (vgl. Entscheid RRB Nr. 2014-01282 des Regierungsrats vom 26.11.2014).
Als Mehrfamilienhäuser gelten Wohnbauten mit mindestens vier Wohneinheiten. Terrassenhäuser mit vier und mehr Wohneinheiten gelten nur dann als Mehrfamilienhäuser, wenn sie Teil einer Arealüberbauung sind. Reihenhäuser und zusammengebaute Gebäude gelten nicht als Mehrfamilienhäuser, wenn sie nicht über einen gemeinsamen Haupteingang verfügen (§ 18 BauV). Der erste Absatz von § 37 BauV gilt somit für sämtliche Wohngebäude mit mindestens vier Wohneinheiten. Die Erleichterung im zweiten Absatz von § 37 BauV gilt nur für Wohnbauten mit vier bis acht Wohneinheiten. Bemerkenswert ist, dass die Begriffe im Zusammenhang mit Wohngebäuden, welche hindernisfrei erstellt werden müssen, im BehiG und in der BauV respektive im BauG nicht deckungsgleich sind.
2. Konkrete Anforderungen
§ 37 BauV stützt sich auf § 53 BauG. Letzterer besagt, dass öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen, Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen und Mehrfamilienhäuser, welche neu erstellt oder erneuert werden, für Menschen mit Behinderungen zugänglich und benutzbar gestaltet werden müssen. Die Gebäude müssen somit nicht nur für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein, sondern auch hindernisfrei benutzt werden können.
§ 37 BauV konkretisiert die Bestimmung in § 53 BauG, indem als einzuhaltender Mindeststandard die Norm SIA 500 (Ausgabe 2009) anwendbar erklärt wird. Die Norm SIA 500 gilt damit als verbindlich einzuhaltende öffentlich-rechtliche Norm und nicht bloss als Richtlinie (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau WBE.2019.40 vom 30.08.2019, E. 2.2.1). Hält ein Bauvorhaben die Norm SIA 500 nicht ein, ist es grundsätzlich nicht baubewilligungsfähig. Abweichungen von der Norm SIA 500 sind nur dann zulässig, «wenn auf andere Art nachweislich erreicht wird, was die einzelnen Bestimmungen vorgeben» (Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau WBE.2019.40 vom 30.08.2019, E. 2.2.1 mit Verweis auf Ziff. 0.2.1 der SIA-Norm 500). Wir vertreten die Ansicht, dass die Korrigenda der Norm SIA 500 (trotz statischen Verweises auf die Norm SIA 500 aus dem Jahr 2009) mitgemeint sind.
Die Grenze zur Pflicht zum hindernisfreien Bauen ist schnell erreicht: Sobald Neubauten oder Änderungen einem ordentlichen oder einfachen kantonalen Bewilligungsverfahren unterstellt sind, sind die in Norm SIA 500 genannten Mindestanforderungen einzuhalten (vgl. Art. 2 lit. a BehiV i.V.m. § 53 BauG und § 37 BauV).
Dass ein Neubau hindernisfrei erstellt werden muss, bedeutet, dass die Mindestanforderungen der Norm SIA 500 bereits von Anfang an erfüllt sein müssen, unabhängig davon, ob ein Bedarf besteht, also ob beispielsweise überhaupt Menschen mit Behinderungen in die Wohnungen einziehen (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau WBE.2019.40 vom 30.08.2019, E. 2.2.2).
Aus diesem Grund ist das Erstellen von Gebäuden, welche nachträglich bei tatsächlichem Bedarf für Menschen mit Behinderungen angepasst und hindernisfrei umgebaut werden könnten, unzulässig und nicht bewilligungsfähig. Das Verwaltungsgericht verweigerte deshalb die Baubewilligung für ein Gebäude, dessen Badezimmer die in der Norm SIA 500 geforderte Mindestbreite von 1.70 m nicht einhielt, obwohl die Badezimmerwand angeblich leicht demontier- bzw. verschiebbar war (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau WBE.2019.40 vom 30.08.2019, E. 2.2.2).
Eine Ausnahme in Bezug auf eine nachträgliche Anpassung sieht § 37 Abs. 2 BauV vor. Die Ausnahme gilt jedoch nur für Wohnbauten mit vier bis acht Wohneinheiten. Demnach darf die Erschliessung der übrigen Geschosse nur über Treppen erfolgen, wenn mindestens ein Vollgeschoss stufenlos zugänglich ist und im Sinne der Anpassbarkeit gemäss der Norm SIA 500 die Voraussetzung erfüllt ist, dass bei Bedarf eine nachträgliche hindernisfreie Erschliessung aller Geschosse möglich ist.
§ 37 BauV gilt sowohl für Neubauten wie auch für bestehende Bauten, welche erneuert werden. Bei bestehenden Bauten ist jedoch das Verhältnismässigkeitsprinzip zu berücksichtigen (vgl. Kommentar zu § 38 BauV).
3. Verfahren und Beispiele
Die Baubewilligungsbehörden holen bei Baugesuchen, welche hindernisfreies Bauen erfordern, oft ein Gutachten der procap ein. Die von der procap geforderten Massnahmen werden meist als Auflage in die Baubewilligung aufgenommen.
Die Norm SIA 500 sieht je nach Kategorie der Baute (öffentlich zugängliche Baute, Bauten mit Wohnungen, Bauten mit Arbeitsplätzen) beispielsweise folgende Vorgaben und Empfehlungen vor:
- Türen: Schwellenfrei und mind. 0.80 m resp. 1.00 m breit
- Korridore: Mindestens 1.20 m breit
- Gleitsichere Bodenbeläge
- Aufzüge: Gefällefreie Fläche vor der Aufzugtür von 1.40 m x 1.40 m; Mindestabstände von seitlichen und gegenüberliegenden Treppenabgängen; Mindestmasse Aufzugkabine in Bauten: 1.10 m x 1.40 m, Tür mindestens 0.90 m breit
- Treppen mit geraden Läufen
- Rollstuhlgerechtes Bad mit schwellenloser Dusche und behindertengerechtem WC, Klosettschüssel mit Achsabstand 0.45 m ab Raumecke, zusätzliche Griffe an Dusche, Badewanne und WC
- Wohn- und Schlafräume sowie Küchen: Mindestmasse für Bewegungsflächen
- Definition von rollstuhlgerechten Kücheneinrichtungen