1. Definition und Anwendbarkeit
§ 29 BauV regelt den Abstand von Bauten und Anlagen in der Bauzone zum Kulturland. Der Begriff des Kulturlandes ist nicht definiert. Aus dem Verordnungstext geht hervor, dass die Begriffe "Kulturland" und "Nichtbauzone" gleichzusetzen sind. Die Praxis versteht unter Kulturland, zwar Flächen, die landwirtschaftlich bewirtschaftet und genutzt werden sollen (Schutz des Kulturlandes, Fakten und Herausforderungen, Bundesamt für Landwirtschaft, Bern 2012, S. 5). Nutzungspläne Kulturland enthalten aber oftmals auch Naturschutzzonen und Landschaftsschutzzonen. Folglich ist unter Kulturland im Sinne des Titels von § 29 BauV die gesamte Nichtbauzone (z.B. auch Materialabbauzonen und Naturschutzzonen) gemeint.
Der Abstand zum Kulturland wird seit dem 1. September 2011 in der Bauverordnung geregelt. Bis zum Erlass von § 29 BauV war diese Materie kantonal nicht geregelt. Sofern die Parzellengrenze mit der Bauzonengrenze übereinstimmte, waren die baurechtlichen Grenzabstandsvorschriften anwendbar. War die Bauzonengrenze aber mit der Parzellengrenze nicht identisch und hatte die Gemeinde nichts anderes geregelt, mussten Bauten und Anlagen keinen Abstand zur Bauzonengrenze einhalten. § 29 BauV legt nun Abstandsvorschriften von Bauten und Anlagen zur Bauzonengrenze fest, wobei abweichendes kommunales Recht vorbehalten bleibt (Erl. zum Bau- und Nutzungsrecht des Kantons Aargau, Version 3.1, Januar 2014, N 259).
Die Bestimmungen des 3. Titels der Bauverordnung (Baubegriffe und Messweisen) und damit auch § 29 BauV sind erst anwendbar, wenn die Gemeinde die Begriffe der IVHB ins kommunale Recht eingeführt hat (Erl. zum Bau- und Nutzungsrecht des Kantons Aargau, Version 3.1, Januar 2014, S. 67).
Auch nach Erlass des § 29 BauV können die Gemeinden den Abstand zum Kulturland selber regeln. § 29 BauV gilt mithin nur subsidiär. Bestimmen die Gemeinden den Abstand zum Kulturland jedoch nicht, müssen die Vorschriften in § 29 BauV zwingend eingehalten werden (Erl. zum Bau- und Nutzungsrecht des Kantons Aargau, Version 3.1, Januar 2014, N 262). Grundsätzlich erlaubt die Formulierung in § 29 BauV, dass die Gemeinden den Abstand zum Kulturland auch ganz aufheben können.
2. Abstand für Gebäude (lit. a)
Werden angrenzend an Kulturland Gebäude geplant, haben diese einen Abstand zum Kulturland zu wahren, der dem zonengemässen kleinen Grenzabstand ohne Mehrlängenzuschlag entspricht. Den Gemeinden steht es frei, den Abstand zum Kulturland abweichend festzulegen oder ganz aufzuheben.
Regeln die Gemeinden den Abstand zum Kulturland nicht, ist alleine der kleine Grenzabstand massgebend. Allfällige Mehrlängenzuschläge (d.h. Zuschläge auf den Grenzabstand bei Gebäuden, deren Länge ein bestimmtes Mass überschreitet) werden nicht berücksichtigt. Der kleine Grenzabstand ergibt sich aus den Vorgaben der Gemeinden in deren Bau- und Nutzungsordnungen. Sofern die Gemeinden einen grossen Grenzabstand vorsehen (vgl. chkp-Kommentar zu § 26 BauV), ist dieser nicht massgebend für den Abstand zum Kulturland. Will eine Gemeinde den grossen Grenzabstand oder Mehrlängenzuschläge auf den Kulturlandabstand angewendet haben, muss sie dies in Bezug auf den Kulturlandabstand ausdrücklich regeln.
Abbildung: Figur 7.2 Abstände und Abstandsbereiche (Anhang 2 zur BauV)
3. Abstand für Stütz- und Einfriedungsmauern (lit. b)
Stütz- und Einfriedungsmauern haben gemäss § 29 Abs. 1 lit. b BauV einen Abstand zum Kulturland, namentlich zur Landwirtschaftszone (Bauzonengrenze), von 60 cm zu wahren. Bei Stützmauern, die höher sind als 2,40 m, erhöht sich der einzuhaltende Abstand um die Mehrhöhe.
Zu beleuchten ist diesbezüglich insbesondere das Verhältnis zwischen § 28 Abs.1 lit. a i.V.m. § 28 Abs. 2 BauV und § 29 Abs. 1 lit. b BauV:
§ 28 Abs. 1 BauV hält in lit. a fest, dass Stützmauern nicht höher sein dürfen als 1,80 m und gemäss dessen lit. b an die Parzellengrenze, im gegenseitigen Einverständnis auf die Parzellengrenze gesetzt werden dürfen. Gegenüber Parzellen in der Landwirtschaftszone beträgt der Mindestabstand 60 cm (§ 28 Abs. 1 lit. b BauV). Wo es die Geländeverhältnisse erfordern, sind höhere Stützmauern zulässig. Diese müssen um das Mehrmass ihrer Höhe von der (Parzellen-)Grenze zurückversetzt werden (§ 28 Abs. 2 BauV). Mit anderen Worten: Der minimal vorausgesetzte Grenzabstand zur Parzellengrenze von 0 cm erhöht sich, wenn die Stützmauer höher ist als 1,80 cm. Demgegenüber erhöht sich der Abstand von 60 cm von Stützmauern an der Bauzonengrenze gemäss § 29 BauV erst ab einer Höhe der Stützmauer von 2,40 m.
Die Regelungen von § 28 Abs. 1 BauV und § 29 Abs. 1 lit. b BauV erscheinen damit grundsätzlich kongruent. Eine Stützmauer an der Parzellengrenze darf eine maximale Höhe von 1,80 m aufweisen. Soll diese, wenn es die Geländeverhältnisse erfordern, eine Höhe von 2,40 m aufweisen, so muss diese einen Abstand zur Parzellengrenze im Umfang des Mehrmasses der Höhe, d.h. von 60 cm aufweisen.
Im Bereich der Bauzonengrenze zum Kulturland wird in § 29 BauV nun aus Praktikabilitätsgründen stets ein minimaler Abstand von 60 cm vorausgesetzt. In einem Abstand von 60 cm zur Bauzonengrenze wird dabei gleich wie beim Abstand von Einfriedungen und Stützmauern zur Parzellengrenze eine Höhe von 2,40 m zugelassen. Im Unterschied zur Regelung in § 28 Abs. 1 BauV wird nach § 29 BauV eine Stützmauer mit einer Höhe von 2,40 m aber generell zugelassen und nicht nur dort, wo es die Geländeverhältnisse erfordern.
Damit stellt sich die Frage, wie die Regelung von § 28 Abs. 1 lit. b BauV, wonach der Abstand von Stützmauern und Einfriedungen gegenüber Parzellen in der Landwirtschaftszone mindestens 60 cm betragen muss, einzuordnen und zu handhaben ist.
Wird eine einheitliche Handhabung der Abstandsvorschriften von Einfriedungen und Stützmauern bei Parzellen und Bauzonengrenzen angestrebt, so wäre im Fall von § 28 Abs. 1 lit. b BauV bei Einfriedungen und Stützmauern im Abstand von 60 cm ebenfalls eine Höhe von 2,40 m zuzulassen. § 28 Abs. 1 lit. a BauV sieht jedoch vor, dass Einfriedungen und Stützmauern nicht höher als 1,80 m ab niedriger gelegenem Terrain sein dürfen, es sei denn die Geländeverhältnisse erfordern eine grössere Höhe.
§ 28 BauV geht damit weiter als § 29 BauV. Diese Unterscheidung dürfte einerseits durch die unterschiedliche Funktion und Gestalt von Einfriedungen und Stützmauern begründet sein. So stellt eine Einfriedung eine bauliche Abtrennung dar, welche auf beiden Seiten grösstenteils frei ist. Demgegenüber ist eine Stützmauer auf einer Seite frei und auf der anderen Seite hinterfüllt. § 28 BauV hat dabei mehrheitlich Einfriedungen und Stützmauern zwischen zwei innerhalb der Bauzone liegenden Parzellen zum Inhalt. § 29 BauV regelt demgegenüber einzig Stützmauern. Offenbar will der Gesetzgeber innerhalb der Bauzone übermässig hohe und auf den tieferliegenden Grundeigentümer erdrückend wirkende Einfriedungen und Stützmauern vermeiden und solche nur in Ausnahmesituationen zulassen, nämlich dort, wo es die Geländeverhältnisse erfordern und dies mit einem Mehrabstand kompensiert wird. Demgegenüber dürfte ein entsprechender Anreiz bei Stützmauern im Bereich der Landwirtschaftsparzellen kaum bestehen. Liegt die Parzelle in der Bauzone aufgrund einer Stützmauer höher, so kann den Anliegen der Landwirtschaft wohl bereits mit der Einhaltung der Mindestabstandes von 60 cm hinreichend entsprochen werden.
4. Grenzabstandsvorschriften, die einen grösseren Abstand verlangen (Abs. 2)
Das übergeordnete Recht gibt häufig strengere Abstände vor (beispielsweise Waldabstand, Abstände zu Gewässern sowie Baulinien von Strassen und Bahn). Solche Grenzabstandsvorschriften (besser Abstandsvorschriften), die einen grösseren Abstand verlangen, bleiben anwendbar (§ 29 Abs. 2 BauV). Bei den Bestimmungen in § 29 Abs. 1 BauV handelt es sich somit um Minimalvorgaben.
5. Privatautonomie
Grenzabstände können in der Regel mittels Dienstbarkeitsverträgen reduziert werden. Der Kulturlandabstand ist demgegenüber zwingend einzuhalten, sofern die Gemeinden keine anderen Regelungen vorsehen (Erl. zum Bau- und Nutzungsrecht des Kantons Aargau, Version 3.1, Januar 2014, N 262). Entsprechend kann der Kulturlandabstand nur mit einer vertraglichen Vereinbarung reduziert werden, wenn dies die Gemeinde vorsieht.
6. Exkurs: Unterniveau- und unterirdische Bauten
Fraglich ist, welchen Abstand Unterniveau- und unterirdische Bauten zur Bauzonengrenze respektive zur Landwirtschaftszone einhalten müssen. Gemäss § 20 Abs. 2 BauV müssen Unterniveau- und unterirdische Bauten – sofern die Gemeinde nichts anderes festlegt – einen Grenzabstand von wenigstens 50 cm einhalten. § 29 Abs. 1 lit. a BauV betrifft den Abstand von Gebäuden zum Kulturland.
Gebäude sind ortsfeste Bauten, die zum Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen eine feste Überdachung und in der Regel weitere Abschlüsse aufweisen (Ziffer 2.1 IVHB [Anhang 1]). Auch Unterniveau- und unterirdische Bauten sind Gebäude: Unterniveaubauten sind Gebäude, die höchstens bis zum zulässigen Mass über das massgebende, respektive über das tiefer gelegte Terrain hinausragen (Ziffer 2.5 IVHB [Anhang 1]). Unterirdische Bauten sind Gebäude, die – mit Ausnahme von Geländern und Brüstungen – vollständig unter dem massgebenden, respektive unter dem tiefer gelegten Terrain liegen (Ziffer 2.4 IVHB [Anhang 1]).
Die Formulierung in § 29 Abs. 1 lit. a BauV könnte so verstanden werden, dass davon sämtliche Gebäude und somit auch Unterniveau- und unterirdische Bauten erfasst sind und damit für jegliche Gebäude ein ordentlicher Grenzabstand gilt. § 20 BauV verlangt hingegen für Unterniveau- und unterirdische Bauten einen Grenzabstand von bloss 50 cm. Angesichts dessen, dass Stützmauern einen Grenzabstand von 60 cm einzuhalten haben und in ihrer Auswirkung gleichartig sein können (bis 80 cm Höhe) erscheint der 60 cm Abstand für Unterniveau- und unterirdische Bauten zweckmässig.