Die alternierende Obhut – Allheilmittel für Scheidungskinder?

Bei einer Trennung stellt sich regelmässig die Frage der Kinderbetreuung. Bis vor kurzem war es mehr oder weniger in Stein gemeisselt, dass die Kinder nach einer Trennung bei der Mutter verbleiben und dem Vater ein Besuchsrecht eingeräumt wurde. Seit einigen Jahren trifft man vermehrt auch das sogenannte Wechselmodell, die alternierende Obhut, an.

Ein Fall zur Veranschaulichung

Lea ist acht Jahre alt. Ihre Eltern haben sich kürzlich getrennt. Seitdem wohnt sie von Sonntagabend bis Mittwochabend bei der Mutter und von Mittwochabend bis Freitagabend beim Vater. Die Wochenenden verbringt Lea abwechselnd beim Vater und bei der Mutter. Was klingt als hätten sich die Eltern nach der Trennung nicht über die Betreuung ihrer Tochter einigen können, entspricht in Tat und Wahrheit ihrer Absicht und nennt sich alternierende Obhut.

Was bedeutet «alternierende Obhut» überhaupt?

Unter alternierende Obhut wird die abwechselnde Betreuung durch Mutter und Vater verstanden. Dabei übernehmen die Eltern die Verantwortung für die Kindererziehung und -betreuung zu mehr oder weniger gleichen Teilen, wobei jeder Elternteil mindestens 30% der Betreuung abdeckt. Das Kind lebt somit sowohl beim Vater als auch der Mutter mit dem Ziel, dass es sich bei beiden Elternteilen zuhause fühlt und mit beiden eine enge, regelmässige Beziehung pflegen kann, was dem Kind Vertrauen und Sicherheit gibt.

…und das soll tatsächlich funktionieren?

Die alternierende Obhut kann diese positiven Auswirkungen auf die Kinder nur dann entfalten, wenn beide Elternteile ein grosses Engagement, eine dauerhafte und konstruktive Kommunikation sowie ein gesundes Mass an Kompromissbereitschaft an den Tag legen. Auch wenn der andere Elternteil vielleicht etwas anders macht, heisst das nicht, dass dies falsch oder schlechter ist. Die Eltern müssen hierfür bereit sein, ihre eigenen Differenzen und Emotionen gegenüber dem anderen Elternteil zu kontrollieren. Die Einigung, wer das Kind wann betreut, kann ganz unterschiedlich aussehen. So ist eine Aufteilung der Betreuung nach Wochentagen oder ein wochenweiser Wechsel denkbar. Der Betreuungsplan muss regelmässig und sinnvollerweise unter Einbezug des Stundenplans angepasst werden. In erster Linie sind dabei die Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen, nicht die Arbeitstage der Eltern. Zentral ist ferner die örtliche Nähe der beiden Wohnorte. Bei ganz kleinen Kindern können die Eltern eine alternierende Obhut wohl auch über eine gewisse Distanz bewerkstelligen, doch ab Eintritt in den Kindergarten führt fast nichts daran vorbei, dass die Eltern nahe beieinander wohnen. Und mit nahe ist das gleiche Dorf gemeint, am besten sogar das gleiche Quartier. Nur so können die Kinder den Schulweg zu Fuss alleine meistern und sind die ganze Woche in der Nähe ihrer Schulfreunde, sodass ihre Freizeit und Freundschaften nicht unter der Trennung der Eltern leiden. Neben diesen eher offensichtlichen Punkten gibt es noch zahlreichen weiteren Regelungsbedarf: Wer trägt die direkten Kinderkosten, wie Krankenkassenprämien, Fremdbetreuungskosten, Hobbies etc.? Wer kauft die Kleider, die Skiausrüstung, das Velo des Kindes? Aus finanziellen Gründen wird dies vernünftigerweise abgemacht, damit die Kindesausstattung nicht vollständig doppelt angeschafft wird. Die doppelte Anschaffung einiger Dinge des Grundbedarfs wie ein Grundstock an Alltagskleidung und Spielsachen sind jedoch notwendig, um die Materialschlacht bei der Übergabe des Kindes möglichst gering zu halten. Auch bei alternierender Obhut wird häufig ein Kinderunterhaltbeitrag festgelegt. Die alternierende Obhut bedarf somit einer genauen und sorgfältigen Planung und Regelung, damit die Umsetzung auch längerfristig funktioniert und spätere Unstimmigkeiten und Spannungen möglichst vermieden werden können.

Wie kann es zur alternierenden Obhut kommen?

Das Gericht muss bei gemeinsamer elterlicher Sorge das Modell der alternierenden Obhut prüfen, sofern dies von einem Elternteil oder einem Kind beantragt wird. Massgebend, ob eine alternierende Obhut - allenfalls auch gegen den Willen eines Elternteils - angeordnet wird, ist allein das Kindeswohl: Neben der geographischen Nähe und der Fähigkeit der Eltern, gemeinsam zum Wohle des Kindes handeln zu können, ist insbesondere auch die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung für das Kind mit sich bringen würde, zu berücksichtigen. Die alternierende Obhut fällt also eher in Betracht, wenn die Eltern das Kind schon vor ihrer Trennung abwechselnd betreuten.

Stolpersteine und Chancen der alternierenden Obhut

Teilen sich die Eltern die Obhut, lebt das Kind bei beiden Elternteilen und kann eine regelmässige Beziehung zu beiden pflegen. Sie bringt dem Kind den enormen Vorteil, dass dem bisherigen Problem des Kontaktverlusts zum einen Elternteil sowie dem Loyalitätskonflikt begegnet werden kann. Aus psychologischer Sicht ist bislang jedoch nicht erwiesen, ob das Kindswohl generell von diesem Modell profitiert. Die positiven Aspekte verwirklichen sich für das Kind zudem nur, wenn sich beide Elternteile kompromissbereit, engagiert und lösungsorientiert zeigen. Die Notwendigkeit der örtlichen Nähe der beiden Wohnorte bedeutet für die Eltern sodann eine räumliche Bindung, was gerade bei neuen Partnerschaften zu Schwierigkeiten führen kann. Zu berücksichtigen ist insbesondere auch, dass die alternierende Obhut für das Kinder eine gewisse Unruhe mit sich bringt, einiges an Flexibilität verlangt und anstrengend sein kann. Es muss daher genau geprüft werden, ob sie tatsächlich den Bedürfnissen und dem Wohle des jeweiligen Kindes entspricht. Die alternierende Obhut bietet eine zusätzliche Möglichkeit hinsichtlich der Kindesbetreuung. Ob sie für eine Familie und das einzelne Kind die richtige Lösung ist, muss aber im Einzelfall sorgfältig geprüft werden. Ein allgemeingültiges Richtig oder Falsch gibt es bei der Wahl des Betreuungsmodells nicht. Ein Allheilmittel für Scheidungskinder ist somit auch die alternierende Obhut nicht.

MLaw Franziska Ruckstuhl, Rechtsanwältin und lic. iur. Regula Jäggi, Rechtsanwältin, chkp. ag Rechtsanwälte Notariat

Bremgarten 15. Dezember 2016