Ein Beispiel zum Einstieg
Familie Neuhaus verwirklicht ihren Traum vom Eigenheim und lässt sich in einer Neubausiedlung ein Elementhaus aus Holz bauen. Darüber, dass die Fassade nicht in einem quartierüblichen dunklen Farbton, sondern in einem hellen Pastellgelb gestrichen werden soll, ist sich die Bauherrschaft von Beginn weg einig und achtet daher auch penibel darauf, dass dies so im Werkvertrag steht. Da ihr Grundstück direkt an einer stark befahrenen Strasse liegt, betonen sie gegenüber dem Unternehmer, dass sie besonderen Wert auf eine gute Schalldämmung legen und ein ruhiges Wohnklima für sie von grösster Wichtigkeit sei. Nachdem ihnen vom Unternehmer zugesichert worden ist, dass die offerierten Ausführungsvarianten technisch gleichwertig sind und alle die verlangten Anforderungen an den Schallschutz erfüllen, entscheiden sie sich für das kostengünstigste Angebot.
Bei der Übergabe des Hauses stellt Familie Neuhaus zu ihrem Ärger fest, dass die Fassade in einem dunklen Terracotta gestrichen worden ist. Nach einem anstrengenden Umzug will Familie Neuhaus das erste Wochenende im neuen Haus in aller Ruhe geniessen. Damit ist es jedoch vorbei, als sie realisieren, dass der Strassenlärm rund um die Uhr deutlich hörbar ist. Die Schalldämmung weist nicht die versprochene Wirkung auf.
Im Frühjahr bemerken sie mit Entsetzen, dass sich an der Dachuntersicht sowie an der darunterliegenden Fassade Schimmel gebildet hat. Ein in der Folge durchgeführter Blower-Door-Test zeigt klar auf, dass die Gebäudehülle undichte Stellen aufweist.
Wann ist ein Werk mangelhaft?
Definition eines Werkmangels
Als Werkmangel wird jede Abweichung des Werkes vom Vertrag verstanden. Die mängelrelevante Beschaffenheit bezieht sich dabei auf die Erscheinungsform, die Ausmasse oder die konkreten Eigenschaften sämtlicher Merkmale des entsprechenden Werkes. Weicht also der tatsächliche Zustand eines Werkes vom vertraglich vereinbartenen Soll-Zustand ab oder fehlt eine vorausgesetzte Eigenschaft, so liegt in aller Regel ein Mangel vor.
Fehlen vereinbarter bzw. zugesicherter Eigenschaften
Der vertragliche Soll-Zustand eines Werkes bestimmt sich anhand der in Bezug auf die Beschaffenheit vereinbarten bzw. zugesicherten Eigenschaften. Diese vertraglichen Eigenschaften kommen durch den Austausch übereinstimmender Willenserklärungen der Parteien zustande, wobei diese ausdrücklich oder auch stillschweigend erfolgen können. Die Erklärung eines Unternehmers, das entsprechende Werk mit einer bestimmten Eigenschaft auszustatten, wird als Zusicherung bezeichnet. Zusicherungen können sowohl auf eigene Initiative des Unternehmers abgegeben als auch vom Besteller verlangt werden. Sobald eine Eigenschaft zugesichert wurde, gilt sie für die Parteien als vereinbart und somit als verbindlich.
Vereinbarungen können auch negativ formuliert sein, d.h. bestimmte Eigenschaften werden ausgeschlossen. Ebenso ist denkbar, dass Toleranzgrenzen oder lediglich Minimalanforderungen definiert werden. Toleranzgrenzen bieten dem Unternehmer einen erweiterten Spielraum, um den Vertrag zu erfüllen. Allerdings ist durch Auslegung zu ermitteln, wo genau die Toleranzgrenzen liegen. Minimalanforderungen führen dazu, dass bei Lieferungen von besserer Qualität nicht per se ein Werkmangel vorliegen muss, da in diesem Fall die minimalen Anforderungen, welche vertraglich vereinbart sind und somit als Soll-Zustand zählen, erfüllt wurden.
Fehlen vorausgesetzter Eigenschaften
Neben den vereinbarten bzw. zugesicherten Eigenschaften, spielen auch vorausgesetzte Eigenschaften eine wichtige Rolle, um über das Vorliegen eines möglichen Werkmangels entscheiden zu können. «Vorausgesetzt» bedeutet dabei, dass die entsprechenden Eigenschaften auch ohne spezielle Vereinbarung erwartet werden dürfen. So muss beispielsweise nicht explizit vereinbart werden, dass ein Dach dicht zu sein hat.
Vorausgesetzte Eigenschaften beziehen sich in der Regel auf die Normalbeschaffenheit und die Gebrauchstauglichkeit des Werkes. Somit muss ein Werk, soweit keine abweichenden Parteivereinbarungen vorliegen, von mindestens mittlerer Qualität und zum Gebrauch tauglich sein. Die Normalbeschaffenheit bestimmt sich nach der objektiven Verkehrsanschauung und richtet sich, wie auch die Gebrauchstauglichkeit, nach dem Bestimmungszweck des jeweiligen Werkes. Um eine Beurteilung vornehmen zu können, stellt sich somit immer die Frage nach dem im konkreten Werkvertrag für das betreffende Werk vereinbarten Gebrauchszweck.
Ein Werkmangel im Zusammenhang mit vorausgesetzten Eigenschaften liegt also vor, wenn es dem Werk entweder an der Normalbeschaffenheit, an der Gebrauchstauglichkeit oder an beidem fehlt.
Vertragsauslegung oder Vertragsergänzung im Werkvertragsrecht
Sind die genauen Werkeigenschaften strittig oder ist unklar, was unter Umständen stillschweigend vereinbart oder vorausgesetzt wurde, müssen die einschlägigen Eigenschaften durch Vertragsauslegung und Vertragsergänzung ermittelt werden. Dabei müssen neben den Verträgen auch die Ausschreibungen sowie weitere Unterlagen beigezogen werden. Vorvertragliche Aussagen, die nicht in den Vertrag aufgenommen wurden, gelten nicht als Zusicherung und sind somit für die Vertragsauslegung nicht relevant. Bei der Vertragsauslegung muss hinsichtlich zugesicherter Eigenschaften in erster Linie auf den hypothetischen Parteiwillen abgestellt werden. Dagegen gelten vorausgesetzte Eigenschaften als Vertragsergänzungen, weshalb der objektive Massstab eines durchschnittlichen Bestellers massgebend ist, d.h. die vorausgesetzten Eigenschaften beruhen auf dem Willen von durchschnittlichen Vertragsparteien. Bei der Auslegung von Werkverträgen kann vom Grundsatz ausgegangen werden, dass eine stillschweigende Annahme seitens des Bestellers nur dann in Frage kommt, wenn es sich um für ihn günstige Eigenschaften handelt.
Abgrenzungsfrage, wann kein Werkmangel vorliegt
Der Werkmangel ist insbesondere gegenüber den folgenden Sachverhalten abzugrenzen, die keine Werkmängel darstellen:
Verletzung von Nebenpflichten: Der Werkmangel bezieht sich immer auf das Werk selbst. So gelten beispielsweise Farbtropfen auf dem Fenstersims, welche beim Streichen der Fassade entstanden sind, nicht als Werkmangel, sondern als Begleitschaden. Ausschlaggebend zur Beurteilung, ob eine Neben- oder Hauptpflicht verletzt wurde, ist der vertraglich geschuldete Umfang des Werkes.
Unvollendetes Werk: Es ist umstritten, wie ein unvollendetes Werk behandelt werden soll. Die herrschende Lehre vertritt die Meinung, dass bei einem unvollendeten Werk noch nicht alle nach dem konkreten Werkvertrag geschuldeten Arbeiten ausgeführt wurden und dieses Werk daher grundsätzlich nicht abgeliefert (und abgenommen) werden kann. Mangels Werkabnahme fällt auch die Rüge allfälliger Mängel ausser Betracht. Der Besteller hat gegenüber dem Unternehmer jedoch einen Erfüllungsanspruch auf Fertigstellung. Die Mindermeinung vertritt die Ansicht, dass auch das Fehlen einer noch geschuldeten Leistung einen Mangel darstellen kann. Diese Ansicht wird in erster Linie damit begründet, dass die Abgrenzung von Mangelhaftigkeit und Vollendung nur schwer zu ziehen ist. Weiss der Besteller nicht mit Sicherheit, ob es sich um einen Werkmangel oder um eine unvollendete Arbeit handelt, hat er sich an der Mängelhaftungsordnung zu orientieren, um seine Mängelrechte nicht infolge verspäteter Rüge zu verwirken.
Völlig anderes Werk: Liefert der Unternehmer ein völlig anderes, also ein vom geschuldeten gegenständlich abweichendes Werk, so hat er seinen Vertrag nicht erfüllt. Da es sich nicht um ein Werk im Sinne des Werkvertrages handelt, stellt dies eine Falsch- und nicht bloss eine Schlechtlieferung dar. Auf eine solche Falschlieferung sind die Mängelrechte nicht anwendbar. Die Folge davon ist, dass der Besteller auch von der Prüfungs- und Rügeobliegenheit befreit ist. Ob eine Leistung mangelhaft oder falsch ist, muss unter Einbezug der vertraglich vereinbarten Eigenschaften und der getroffenen Abreden ermittelt werden. Fehlen entsprechende Regelungen, muss der Vertragsinhalt nach den bekannten Kriterien ausgelegt werden.
Verschlechterung des abgelieferten Werks: Normale Gebrauchsabnutzung oder zufällige Beschädigungen eines Werks nach Ablieferung stellen keine Werkmängel dar. Es sind allerdings Konstellationen denkbar, bei denen die Verschlechterung auf einen ursprünglichen Mangel zurückzuführen ist. War bereits bei der Ablieferung ein nicht erkennbarer Mangel mindestens im Keime vorhanden, der für die Verschlechterung des Werks ursächlich war und vergrösserte sich dieser im Laufe der Zeit oder entwickelte sich daraus ein zweiter Mangel anderer Art, ist dieser als Werkmangel zu beurteilen.
Weist das Werk im Beispiel nun Werkmängel auf?
Vertraglich wurde festgehalten, dass die Fassade in einem hellen Pastellgelb gestrichen werden sollte. Bei der Übergabe des Hauses stellte Familie Neuhaus fest, dass die Fassade terracottafarben gestrichen wurde. Diese Abweichung von der vertraglich vereinbarten Farbe stellt ein Fehlen einer vereinbarten Eigenschaft und somit einen Werkmangel dar.
Bei der Wahl der Ausführungsvariante sicherte der Unternehmer Familie Neuhaus die gewünschten Schallschutzeigenschaften zu. Die Tatsache, dass das Haus nun nicht die vom Unternehmer zugesicherte Schalldämmwirkung besitzt, ist als Abweichung zum Soll-Zustand des Hauses einzustufen. Eine derartige Abweichung vom Vereinbarten gilt als Werkmangel.
Genauso wie vorausgesetzt werden kann, dass ein Dach dicht sein muss, kann auch erwartet werden, dass die Gebäudehülle dicht ist. Der durchgeführte Blower-Door-Test zeigte klar, dass diese vorausgesetzte Eigenschaft bei der Liegenschaft der Familie Neuhaus nicht vorhanden ist. Die undichten Stellen in der Gebäudehülle waren bereits bei der Ablieferung vorhanden und konnten von der Bauherrschaft im Zeitpunkt der Abnahme auch bei aller Sorgfalt nicht erkannt werden. Es handelte sich dabei um einen verdeckten Mangel. Dieser ursprüngliche Werkmangel war für die Schimmelbildung im Bereich des Daches ursächlich, weshalb auch der Schimmelbefall einen Werkmangel darstellt.
Fazit
Abschliessend bleibt festzuhalten, dass Werkmängel immer individuell beurteilt werden müssen, da in jedem Werkvertrag andere Eigenschaften – sei es aufgrund einer Zusicherung oder weil diese vorausgesetzt werden – massgebend sind. In jedem Fall empfiehlt es sich aber, individuelle Abreden ausführlich zu dokumentieren. Damit wird die Vertragsauslegung und -ergänzung für den Fall von Differenzen erheblich erleichtert.
Liegt ein Werkmangel vor, so hat der Besteller die Wahl zwischen den drei gesetzlichen Mängelrechten: dem Wandelungs-, dem Minderungs- oder dem Nachbesserungsrecht. Hat der Besteller zusätzlich einen Mangelfolgeschaden, d.h. einen nicht im Mangel selbst begründeten weiteren Schaden, den der Unternehmer verschuldet hat, steht ihm zusätzlich ein Schadenersatzrecht zu.
Wie bereits erläutert, stellen nicht alle Sachverhalte, bei denen ein Werk mangelhaft erscheint, einen Werkmangel dar. Auch wenn kein Werkmangel im rechtlichen Sinne vorliegt, bedeutet dies aber nicht, dass sich der Bauherr nicht zur Wehr setzen kann. Möglicherweise stehen dem Besteller andere Rechtsbehelfe (z.B. Verweigerung der Annahme der Leistung, Klage auf Erfüllung des Vertrages oder Ersatz für die Nichterfüllung) zur Verfügung. Es lohnt sich in solchen Situationen also regelmässig, rechtzeitig rechtliche Unterstützung beizuziehen.
Philipp Laube
Dr. iur. HSG
Rechtsanwalt und dipl. Architekt HTL
chkp. Rechtsanwälte Notariat
Baden
unter Mitarbeit von MLaw Katrin Gisler
Anwaltspraktikantin
chkp. Rechtsanwälte Notariat
Bremgarten